Zeit, die Raum schafft – oder Raum, der Zeit definiert?
Evelyn Schalk, 2009
Die Wahrnehmung von Raum und Zeit als medial und gesellschaftlich geprägte Phänomene, Machtinstrument und Herrschaftsmethode in Form von Wahrnehmungsvorgaben und Perspektivenetablierung – doch auch deren Veränderbarkeit, die Wirkung von Bewegung auf starre Strukturen – physikalische und jenen des Denkens. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Arbeiten von Thomas Hörl – und so wie sich diese aus der Kombination biographischer Erinnerungsfetzen mit öffentlicher, medialer Wahrnehmung speisen, so verorten die Installationen das Individuum zwischen vorgefundenen und durch die Reflexion geschaffenen Räumen.
Einen Fokus bildet die Auseinandersetzung mit sogenannter Volkskultur, speziell mit Perchten, ihrer Entstehung, dem aktuellen Status und ihrer visuellen Ästhetik. Reflexionen über die Zusammenhänge partriarchaler Systeme, Verdrängungsmuster, Originalitätsbegriff, Traditionalismen und (Tourismus-)Spektakel verarbeitet der Künstler in unerwartete Kontextualisierungen, bewusste Perspektivenwechsel brechen die Macht der immer weiter und weiter manifestierten Abziehbilder in den Köpfen der Betrachter und fordern sie zum Betreten der so geschaffenen bzw. eröffneten Räume auf.
Die Schemenhaftigkeit der Figur, die sich, frontal betrachtet, nur als Schatten hinter dem weißen Tuch in der Installation „Sokk“ abzeichnet, verweigert die visuelle Eindeutigkeit – einzig die Stange ragt manifest durch die Mund- öffnung. Auf dieser baut dann auch die komplette, zum Schattenriss entkörperte Figur auf. Doch erst der Blick hinter die weiße Fläche gibt die Bestandteile des vermeintlichen Körpers frei und dekonstruiert gleichzeitig die Imagination von dessen vordefinierter Form. Hörl vergegenwärtigt die durch und durch männlich definierten Repräsentationsformen der Perchten- läufe, von deren Teilnahme Frauen gänzlich ausgeschlossen sind. In der Folge wird auch die Darstellung weiblicher Rollen in den Mythen von Männern übernommen – die diese den Vor- und Einstellungen einer patriarchalen Tradition gemäß verkörpern. „Sokk“ referiert übrigens auf den estnischen Weihnachts- bzw. Neujahrsbock, dessen Geschlechtsteile in den Erzählungen zwar meist verschwiegen, im Kostüm jedoch sehr wohl dargestellt und den Frauen der besuchten Höfe gegenüber auch symbolisch-manifest zum Einsatz gebracht werden. Der Künstler wirft einen queeren Blick auf die durchwegs heterosexuellen Zeremonien und Rituale der Perchtenläufe samt dazu- gehöriger Mythologien und enttarnt den solchen Spielen immanenten systemerhaltenden Verdrängungsmechanismus sowie dessen dazugehörige Ventilfunktion. Denn während in dem speziellen Kontext, unterm Schutz des Traditionserhaltes und des karnevalesken Brauchtums, Männer in Frauenkleidern wie selbstverständlich dazugehören, ist dies außerhalb dieses Rahmens, vor allem im ländlichen Raum, bekanntlich noch immer tabu. Ob der mit den Spielen und der Mythenbildung verbundenen Ikonisierung des Geschehens und ihrem „pädagogischen“ Einsatz werden diese Rollenzuweisungen zusätzlich manifestiert. Hörl: „Hier funktioniert die Travestie, die im Alltag nach wie vor an Grenzen stößt.“ Was bei „Sokk“ mit dem Verweis auf das Zielen mit Hörnern unter die Röcke der Mädchen beginnt, steht in der Linie von Thomas Hörls Beschäftigung mit der Figur der Salzburger „Hoabagoaß“ und wird in der Arbeit „Namahage Knife Play“ auf einer weit komplexere Ebene verhandelt. Die blutrünstigen Mythen, wie etwas das Bauchaufschlitzen durch eben jene Salzburger Perchtenfigur als erzieherisches Druckmittel Kindern gegenüber (sollte das Zimmer nicht aufgeräumt sein, stopft die Hoabagoaß der Sage nach die Spielsachen in den offenen Bauch), brennen sich ein. Verstärkt werden sie durch die immer unsichtbar bleibende Bedrohung, ein Zustand der Bildlosigkeit, der das Erfüllen von Forderungen unter der Einwirkung einer immer diffus bleibenden, übermächtigen negativen Kraft fordert, „abstrakte Angst“, gegen die man ob deren Unbestimmbarkeit auch keine Handhabe zu besitzen meint. Imagination. Macht. Abstraktion. Hier beginnt der Prozess des Umdeutens, hier setzt Hörl nun, als Erwachsener, an. Seine Installationen haben einen starken Materialbezug, stellen oft Details in den Mittelpunkt, kontextualisieren diese neu. Der Künstler erkennt Vorgefundenes als Vorhandenes, ist sich dessen Wirkung bewusst – und nützt diese, um aus scheinbar komplett Gegensätzlichem neue Bedeutungsnetzwerke zu bauen. Die Ausgangsobjekte sind oft als historische Darstellungen präsent und machen so die Entwicklung noch deutlicher. Mit „Namahage Knife Play“ verarbeitet er die Zeremonie um den japanischen Namahage, eine Figur die, ebenfalls zu zweit auftretend, ähnlich wie der österreichische Nikolaus und Krampus agiert. Sie erscheinen in den Neujahrstagen, erkundigen sich nach dem Betragen der Kinder und werden darüber hinaus in den besuchten Häusern verköstigt. Eine Besonderheit stellen die mitgebrachten Attribute, ein Messer (Hocho) und das Glückwunschfässchens (Iwa Taru) dar. Beginnt das Kind bei ihrem Auftritt zu weinen, verheißt dies der Sage nach Glück. „Mich interessiert die zwischen Täter und Opfer, Aktiv- und Passiv-Sein divergierende Rolle der Kinder, die selbst auch zu Darstellern dieser Figur werden, wenn sie die Erwachsenen nachahmen“, so Hörl. In seiner Performance ritzte er einen langen Schnitt in den Rasen vor der Tokyoter node gallery, in der Ausstellung und Performance stattfanden, und trieb 15 Zaunpfähle mit einem Hammer in diese „Wunde“. Eine einmalig durch- geführte Handlung, für die Videoaufzeichnung wird die Insezenierung allerdings wiederholt. Die Vertiefungen sind dann schon vorhanden, fast spielerisch werden sie weiter „genützt“, durch die Aufnahme beliebig oft wiederholbar. Während später vor der Galerie Gras darüber wachsen wird oder auch die Narben sichtbar bleiben, ist die Tat medialisiert, per Knopfdruck abspielbar. Hörl verkehrt die beide Grundgrößen von Kultur und Natur, führt eine positive menschliche Abgrenzung ad absurdum, die gedoppelte Verletzung einer prä-domestizierten Natur, Falschheit der Wertung, Eigenverletzung. Er geht auch auf die sexuelle Ebene (im Galerieraum finden sich zwei Strohballen mit Reißverschluss- und Metallkettenhälften) – die Praxis des „Knife Play“. Nicht aus dem Blick lässt er die Folgen sogenannter gesellschaftliche Urteile und verweist auf die Amok-Messerstecherei im Tokyoter Stadtteil Akihabara. Hier werden Verletzungen öffentlich zugefügt, werden sicht-bar (gemacht). Doch das sind sie auch am Körper des Individuums. Krankheitsbilder spielen bei Hörl immer wieder eine Rolle, werden jedoch nicht als bedauerliche, aber eben „natürliche“ Entwicklungen verbucht, sondern als Ergebnis eines Netzwerkes von Kausalitäten. Eine (rein ökonomisch profitable) Vereinzelung der Betrachtungsausschnitte wird verweigert. Hörl weist in „Namahage Knife Play“ auf einen phonetischen Gleichklang hin, Scheinharmonien: Gastrotomie und Gastronomie – die bitter-ironische Anspielung auf die internationalen Parallelen des Bewirtungsfaktors, phonetisch beinahe verwechsel- oder austauschbar mit dem medizinischen Fachbegriff für Magenschnitt.
Biomorphe, darstellbare Formen, manifeste Krankheit als Gegensatz und Folge abstrakter Angst. Der Akt des Sezierens von Zusammenhängen ohne abschließenden Befund. Verköstigt wird die Figur, ob als Namahage in Japan oder als Perchte in Österreich, dem allgemein gültigen Brauch nach, Hörigkeit gegenüber dem Konstrukt eines sozialen Kollektivs, die Folgen muss das Individuum im dezidierten Wortsinn “am eigenen Leib“ ausbaden, allein. Der operative Magenschnitt legt Verinnerlichtes offen, die pathologische Ebene und deren Rückbindung, der Schnitt in der Landschaft, eine weitgehend unbeachtete, wie sie überall auf dieser detailreich vermessenen Terra Incognita existiert. Doch nur dem Schein nach, die Wiederholbarkeit der Tat bleibt hier das einzige, der propagierten Fortschrittsdefinition entsprechende „kulturelle“ Relikt.
Die Wiederholung selbst ist ein kennzeichnendes Moment für die performativen Installationen (bzw. Skulpturen) von kozek hörlonski. „In an instant I remembered everything“ – diese Zeile aus dem ihrem Katalog vorangestellten The Cure-Song kann als kennzeichnend für die Arbeiten des aus Thomas Hörl und Peter Kozek bestehenden Künstlerduos betrachtet werden. Installationen, die sich permanent selbst konstituieren, performative Skulpturen, die durch zeitliche Abläufe Raum strukturieren und für die Dauer der ihres Vorhandenseins definieren. „Territorien aufspüren und gleich wieder verwerfen“ schreibt Peter Kozek, doch es sind Zeit_Räume, die nachwirken. Territorien bezeichnen Herrschaftsbereiche, der Umgang damit ist ein gegenläufiger: auflösen, sich aneignen, frei fluktuierend, Gedanken aus Schubladen holen, sich schematisierten Definitionen verweigern. Damit wird auch der/die BetrachterIn nie aus der Verantwortung entlassen, die Verortung des Subjekts macht ihn/sie zum Teil des Geschehens, wie außerhalb dessen sein/ihr Handeln.
Mit „The Hanging Gardens“ realisierten kozek hörlonski eine visuell reduzierte Performance, die die Bezugsdichte umso deutlicher macht. Die beiden begeben sich auf eine Schaukelkonstruktion, montiert auf einem galgenähnlichen Gerüst, wo sie, in die jeweils entgegengesetzte Richtung blickend, jeder mittels Strickliesl (jenem Handarbeitsbehelf, das man noch aus frühen Schultagen in Erinnerung hat) an einem roten Wollstrang stricken. Der Prozess des Wartens, die materialisierte Darstellung des Vergehens von Zeit, wird umso eindrücklicher präsent, als dass er auf ein gesellschaftspolitisches Drama verweist: die Hinrichtung zweier homosexueller Jugendlicher im Iran, die auch durch die mediale Aufmerksamkeit nicht verhindert wurde. Wartezeiten, Lebenszeiten – hier wird umso deutlicher, wie sehr Zeit, Ab- und Verlauf Raum zu definieren vermag. Monotonie, die sich in den Vordergrund schiebt. Die Heuchelei eines Urteils über Schuld und Vergehen, die Umkehrung von Verantwortung, Gewalt und Identität. Und die ewig gleichen Argumentationsschemata, heute noch. Der Titelverweis auf das erste der sieben antiken Weltwunder, die hängenden Gärten von Babylon, kulturelle Errungenschaften, trügerische Selbstgewissheit. Während die beiden stricken und knarrend schaukeln brennen links und rechts zwei Lampen im Ruhezustand, als sie den Faden und sich selbst sinken lassen, sind es zwei Lichter, die, auf der Unterseite der Schaukel montiert, jeweils abwechselnd mit der langsamer werdenden Bewegung und dem monoton leiser werdenden Geräusch aufblitzen. Schaukel und Galgen, Alter und Definitionen von Zeit – und Vorgaben, wie diese zu füllen sei. Einer – Alle – Zeit – Macht – Bilder – Handeln. Stillstand und Verlauf. Untertitel: „Still. Contemporary“
Mit „Wollblut“ nehmen die beiden den roten Faden wieder auf, Versatzstück der eigenen Arbeit, kontextualisieren auch diese neu, vergrößern den Einzugsbereich. Ein ganzes Haus wird Bühne, seine Architektur teil der Performance und das Video der „Hanging Gardens“ Verweisinventar der Inszenierung. Zeit, Raum, Licht, Klang bilden die Welt der beiden Akteure, die mit jener der Londoner Limehouse Townhall, dem Ort des Geschehens, nur gemeinsam hat, dass diese den Kunstrahmen bildet – und dafür nicht eines sondern eine Vielzahl von Bildern erhält.
Mit Symbolik und medial wie emotional geprägter Wahrnehmung hat sich Thomas Hörl auch in seiner Installation „Symbols Clashing Everywhere“ beschäftigt, in der er der heftigen Reaktion der Menschen in Tallinn nachspürt, als das Denkmal des „Bronzesoldaten“ versetzt werden sollte und schließlich auch wurde. Das ursprüngliche „Denkmal für die Befreier von Tallinn“ als Zeichen des Sieges der Roten Armee über den Faschismus wurde später zum Symbol für den Beginn der Okkupation der baltischen Staaten durch das Sowjetregime. Die tagelangen Unruhen rund um die Versetzung des sowjetischen Ehrenmales forderten einen Toten und zahlreiche Verletzte. Die Installation zeigt Versatzstücke, wie sie nach Demos oder Straßenkämpfen übrig bleiben: eine umgestürzte Stellwand, eine Bank im Abseits (von der aus sich das Geschehene betrachten ließe, den Blick auf die am Boden liegende Wand gerichtet, ein temporäres Denkmal der Verweigerung), Scherben sowie eine Menge Fotos (sämtliche von Hörl in seiner Zeit in Tallinn aufgenommene) und Zeichnungen von zerstörten Reklametafeln. So wird die physikalische Macht sichtbar, ein Stillstand, der noch die vorangegangene Bewegung in sich trägt und auf deren potentielle Wiederholung verweist, eine Zwischen- und Schlüsselsituation, in der System-Abläufe außer Kraft gesetzt worden sind, auf die Scherben mitten im Raum könnte jederzeit jemand treten.
Mit Vermittlungs- und Raumebenen und den ihnen inhärenten Hierarchien beschäftigen sich kozek hörlonski in „level zer0“. Gerade in dieser Performance wird die Auseinandersetzung mit vorgefundenen räumlichen, architektonischen Bedingungen und der Dekonstruktion ihrer Bedeutungs- zuweisungen besonders deutlich. Das MUMOK als Spiel mit neun Levels, dessen Regeln sich aus der Bewegung der Besucher ableiten (notierte Zahlenkombinationen von Liftanzeigen), die diesen allerdings verborgen bleiben. Wer steuert, wer lässt sich steuern, wir wollen doch alle nur spielen… Die Codes, die die Regeln bestimmen, Kunst als Möglichkeit ihrer Umdeutung, die Schaffung eigener Bezugssysteme, die wiederum Raum als Experimentierfeld offen lassen.
Spiel als ironische Decouvrierung, Hinweise statt dogmatische Offensichtlichkeiten, Irritation von Abläufen, all das kennzeichnen die Arbeiten von Thomas Hörl und Peter Kozek. Trotz der zirkulären Abläufe keine Sicherheiten zulassend, keine endgültigen Definitionen anbietend, sondern Identität als Außenschublade enttarnend, erfahrbar aber nicht akzeptierbar – trotz´ Endlichkeit keine Endgültigkeit.
Evely Schalk, ausreißer - Grazer Wandzeitung, Print- und Onlineausgabe #26 01/02 2009, Graz 2009