kozek hörlonski

1-2-3-4: Reinsberg in seiner vierten Runde

Susanne Neuburger, 2011

Seit 1999 mit Gemeinsame Sache das erste Projekt veranstaltet wurde, hat sich zwar die Kunst im öffentlichen Raum sehr verändert, nicht aber die prinzipielle Lage in Reinsberg, das ein Ort bleibt, der in zwei Lager geteilt ist. Kunst im öffentlichen Raum ist längst ein institutionalisiertes Feld, wird auf Universitäten unterrichtet und ist darüber hinausgehend recht modisch geworden. Wie kaum ein anderer Ort in Niederösterreich kann Reinsberg eine kontinuierliche Erfahrung mit den Praktiken des Raumes ausweisen und ist deshalb mit der Methodik von Ortsspezifik und Partizipation bestens vertraut. In einer Balance zwischen der lokalen Situation und den großen Fragen der Welt, die in ihrer Polarisierung auch immer wieder die Realität in Reinsberg mitdenken und berühren, zwischen Ansprüchen an die Kunst und den Bedürfnissen vor Ort geht nun Reinsberg Nummer 4 unter dem Titel Geteilte Zuversicht vom Stapel. Geteilte Zuversicht fragt nach einer Perspektive auf die globalisierte Welt, ist ebenso skeptisch, wie auch auf das Gemeinsame gesetzt wird, wie Alain Badiou sagt: „Was bedeutet: ‚Es gibt eine einzige Welt‘?“. Gleichzeitig wird aber an die produktive Seite einer „geteilten Meinung“ appelliert, die nicht polarisiert, sondern wie in den vorangegangenen drei Projekten eine diskursive Plattform schafft. Sowohl die Bewohner als auch die sechs eingeladenen KünstlerInnen sind aufgefordert, durchaus geteilte Wege einzuschlagen, jedoch an einer gemeinsamen Bewegung teilzuhaben, die den Ort und seine Ordnung in Bewegung bringt, um – ganz im Sinne von Michel de Certeau – Räume sich ausbilden und entstehen zu lassen.
Nicht nur in ihrer kuratorischen, sondern auch in ihrer künstlerischen Arbeit führen uns Iris Andraschek und Hubert Lobnig gleichzeitig nach Reinsberg und mitten in die Kunst, steht doch neben der Kirche (und an den Eröffnungstagen eingebunden in die „Reinsberger Nächte“) ein modifizierter White Cube, der als Schnapsbar fungiert. Er hat sein Innen nach außen gestülpt und zeigt auf weißem Untergrund Texte, die auf einer Umfrage im Ort basieren. Fünf Fragen haben Andraschek/Lobnig unter dem Motto „Was soll ich tun?“ an die Bewohner von Reinsberg geschickt, welche nach dem sozialen Miteinander in der Ortsgemeinschaft fragen. Indem der White Cube nicht nur der Ausstellungsraum der Moderne ist, sondern auch mit all seinen ideologischen Implikationen gleichzeitig Theorie und Praxis verkörpert, wird die Position der Künstlerkuratoren hervorgehoben, die Andraschek/Lobnig in Reinsberg einnehmen. Mit den Strategien des Raumes zu arbeiten, ist eine der großen Herausforderungen der Kunst seit den 1970er Jahren. Geriet im Zuge der Institutionskritik das Museum als White Cube zusehends in Misskredit, wurde der kunstfremde Ort als Schauplatz dessen entdeckt, was vorher ausschließlich im Museum stattgefunden hatte. Vermehrt fand Kunst im öffentlichen Raum statt, der seinerseits ebenso radikalen Umstrukturierungen wie die Kunst unterlegen war, und wurde bekanntlich dann als „ortsspezifisch“ bezeichnet, wenn der jeweilige Ort der Entstehung in eine künstlerische Arbeit interpretierend einbezogen war. Ortsspezifisches Arbeiten wurde auch als Angriff auf den ideologisch interpretierten White Cube des Museums verstanden und galt besonders in den 1990er Jahren als Gegenstrategie zum Ausstellen im Museum als avancierte Kunstpraxis. Heute sind diese Parameter zwar historische Bedingung, jedoch vielfach überfrachtet. Die Frage „Was soll ich tun?“ wendet sich schlussendlich auch an die Kunst selbst, um sich freizuspielen und den historischen Ballast abzuwerfen. Generell begreifen Andraschek/Lobnig das weite Feld der Kunst im öffentlichen Raum nicht als doktrinär, sondern als offen und nutzen Handlungsräume thematisch, um aus dem abstrakten Raum das Konkrete, Individuelle, Gemeinschaftliche herauszuholen.
Das Interesse für den Ort bestimmt auch die Arbeit von Michael Hieslmair und Michael Zinganel mit dem Titel Never Walk Alone. In umfassenden Recherchen sind die beiden dem Fußball und seinen speziellen Gepflogenheiten in Reinsberg nachgegangen. Nun stellt das Duo eine mobile Audioskulptur vor, eine Fantribüne, zu der auch ein überdimensionierter Wanderpokal gehört, der im Gehäuse des Mobils untergebracht ist. In seiner Größe ist er ein skulpturales Objekt, das eben fallweise zum Einsatz kommt und in weitester Ferne daran erinnert, dass die Skulptur das eigentliche Leitmedium im öffentlichen Raum war, bis es seit den 1960er Jahren in Theorie und Praxis als „erweitertes Feld“ begriffen wurde, in dem neue auf den Raum bezogene Praktiken die Gattungsästhetik der Skulptur hinterfragten. In der Postmoderne schien das Architekturfragment eine Alternative zu bieten, welches sich häufig als überdimensioniertes Zitat auswies, oft begehbar war und so das Publikum einbezog. Dennoch ist die mobile, funktionale Bühne, die für viele Anlässe verwendet werden kann, kein Relaunch der geschichtslosen Postmoderne, sondern stellt Kontext und Inhalt über kunstimmanente Bezugsetzungen.
Im Ortsraum von Reinsberg wollte Matthias Klos keine Spuren hinterlassen und geht prinzipiell vom Konzept aus, dass er im Ort fremd bleiben will. Seine Publikation Geschichten erzählen sich selbst und Motive haben kein Benehmen hat er an alle Haushalte verschickt. In 500 Exemplaren gedruckt, handelt es sich um eine Bild-Text-Geschichte über Reinsberg. Wenn Klos – im Gegensatz zu den anderen Projekten – eine Position der Distanz einnimmt, ist diese dennoch in den unsichtbaren Kreislauf der Post eingebunden. Man kann seine Arbeit auch als Referenz auf die Mail Art sehen, die zum System Kunst auf Abstand ging und dessen Vertriebs- und Repräsentationssystem misstraute. Auch ist nach Michel de Certeau der Raum der Sprache, der Lektüre ebenso ein Raum, der nun den Ort eines Zeichensystems in Bewegung gebracht hat.
Mit Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück greifen Johanna Tinzl und Stefan Flunger direkt in die Ordnung des Ortes ein, die mit dem Kirchturm und dessen Uhr gegeben ist. Sie spielen den Raum quasi mit der Zeit aus. Der neue „Zeiger“, der ursprünglich am Kirchturm angebracht werden sollte, befindet sich nun auf einer Anhöhe in deutlicher Bezugsetzung zum Kirchturm. Er ist eine freistehende Skulptur, ein kinetisches Objekt, das als raumzeitliches Konstrukt eine konkrete Situation simuliert bzw. eine solche in der Wiederholung konterkariert. Gleichermaßen kann Reinsberg wie die große Welt gemeint sein.
Im Unterschied zur Stadt scheint sich im ländlichen Raum Öffentlichkeit weniger entmaterialisiert zu haben und nach wie vor den konkreten Ort zu suchen, den sie in der Stadt längst verloren hat, wenn sie in Beliebigkeit und Inhaltslosigkeit abdriftet. Es gibt nur wenige Arbeiten, die sich direkt mit Situationen in Niederösterreich bzw. der Steiermark auseinandersetzen und das Thema Bauernstand aufgreifen, wie jene von Antje Schiffers, die nun im Kaufhaus Gruber eine Auswahl ihrer Videoarbeiten zeigt. Antje Schiffers geht den Lebensumständen der Bauern nach sowie deren ökonomischen oder politischen Bedingungen. Schiffers‘ Vorgangsweise basiert auf einem Tauschhandel, wenn sie – wie im Großen Bauerntheater, zusammen mit Thomas Sprenger realisiert – Malerei gegen Video tauscht. Während die Bauern mit Videokameras ihren Arbeitsalltag, den Hof, ihre Familie porträtieren sowie die Landwirtschaftspolitik und Entwicklung des Marktes kommentieren, setzt Schiffers die Situation in Bilder um.
Anna Fabricius scheint in ihrem Werk einer der großen Forderungen an die Kunst im öffentlichen Raum nachzukommen, nämlich eine situationsgerechte Repräsentation einer nicht repräsentierbaren Totalität zu schaffen. Unter dem Titel Techné filtert sie aus der Masse Teilmengen, verfolgt ihre Bewegungen und Räume, die meist die von Vereinen oder Berufsgruppen sind. Sie bringt konkrete Bilder in den Ort, welche in großen Fototafeln im Ortsbereich installiert sind. Ihre Arbeit erinnert auch daran, dass Reinsberg immer schon ein Ort der Fotografie und überdies einer der Performance war.
Am Eröffnungsabend führten kozek hörlonski LGBQT auf und konfrontierten den Besucher mit einem ebenso dadaesken wie heterotopischen Setting. Aus dem Verborgenen, einer Art Verschlag, der Assoziationen zu Grab- oder Kultstätten hervorrief, traten die beiden Künstler als Formationen in Schwarz und Weiß dem Publikum gegenüber. Spiegelbildlich waren sie aufeinander bezogen, wenn Teile von Kleidung und Requisiten jeweils beim einen weiß, beim anderen schwarz waren. Sie agierten als eine geteilte Figuration voller Bezugsetzungen, die nicht nur an Günter Brus, sondern auch an H.C. Artmann erinnerte, der mit Mitgliedern der Wiener Gruppe in schwarzer Kleidung mit weiß geschminkten Gesichtern den literarischen Spaziergang „Une soirée aux amants funèbres“ von der Oper zum Prater inszenierte. Nun zogen kozek hörlonski mit einem Wägelchen zur Burgarena, jenem Ort der Kultur, der Reinsberg polarisiert. Dort endete die Performance mit zwei ebenso spiegelbildlich inszenierten schwarz-weißen Setzungen. Sie blieben wie zwei Solitäre, die einen Schatz oder eine Botschaft versiegeln, im Regen zurück.
Zumindest an diesem Abend konnte von einer Rückkehr zu einem „normalen Dorf“, das sich der eine Teil von Reinsberg wünscht, keine Rede sein.

Susanne Neuburger

Kunsthistorikerin und Kuratorin, seit 1983 am Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien. Zahlreiche Ausstellungen, Projekte und Texte zur zeitgenössischen Kunst und Kultur.

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